Hintergrund
In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kamen zahlreiche Vietnames*innen als Vertragsarbeiter*innen in die DDR. Für viele Vietnames*innen war die Arbeit in der DDR einerseits eine Möglichkeit, der Perspektivlosigkeit im Herkunftsland zu entkommen und andererseits mit dem verdienten Geld ihre Familien im Nachkriegsvietnam zu unterstützen. Die Aufenthaltserlaubnis der Vertragsarbeiter*innen war gekoppelt an einen Arbeitsvertrag. 1989 lebten und arbeiteten ca. 60.000 Frauen und Männer aus Vietnam in Ostdeutschland. Nach der Wende verloren die meisten Vertragsarbeiter*innen ihre Arbeit, somit hätten sie nach Vietnam zurückkehren müssen. Trotz der ungewissen Zukunft entschieden sich etwas mehr als 20% dieses Personenkreises in Deutschland zu bleiben. Mit dem Zusammenbruch der DDR kamen schwierige Lebensumstände, geprägt von Arbeitslosigkeit, der Angst vor Abschiebung und rassistischen Übergriffen – bis hin zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 – auf sie zu. Trotz der großen Herausforderungen waren viele fest entschlossen, in Deutschland zu bleiben und für sich sowie ihren Familien ein besseres Leben aufzubauen.
Zugewanderte aus Vietnam gelten heute oft als gut integriert, strebsam und fleißig und somit als Vorzeigebeispiel für „gute Migranten“. Gerade in der ersten Generation der vietnamesischen Zugewanderten war die Devise „Nicht auffallen!“ weit verbreitet. Ein gutes Leben in Deutschland war in ihren Augen nur durch harte Arbeit, Aufopferung und ein leises Dasein in der deutschen Gesellschaft möglich. Auch in der Erziehung der Kinder spiegelte sich diese Einstellung wider. Diese sollten auch im Angesicht von Diskriminierung unauffällig sein, keinen Ärger machen und sich auf Bildung und Karriere konzentrieren. Heute zeigt sich die zweite Generation zunehmend politisch engagiert, laut und meinungsstark. Die Erfahrungen, die sowohl ihre Elterngeneration als auch sie selbst gemacht haben, wollen sie nicht mehr unkommentiert lassen.
Die Idee zum Projekt entstand im Zuge des 30-jährigen Gedenkens an das Pogrom von Rostock Lichtenhagen im Jahr 1992. Nach den Gedenktagen im August 2022 konzipierte der Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V. das Projekt, welches im Zeitraum vom 1. März 2023 bis 31. März 2024 von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wurde.
Das Projekt sollte die Erfahrungen der vietdeutschen Community Mecklenburg-Vorpommerns mit Migration und Postmigration in den letzten 40 Jahren erarbeiten, reflektieren und eine Innenansicht dieser Community erstellen. Im Fokus standen dabei einerseits die Wege zur Teilhabe sowie Integration und andererseits die Herausforderungen mit der eigenen Identität sowie der Umgang mit Alltagsrassismus. Ziel war es zudem, einen generationsübergreifenden Austausch innerhalb der vietdeutschen Community anzustoßen und einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs zu Themen Migration und vielfältige Gesellschaft zu leisten. Ein zentrales Ergebnis des Projektes sollte die Bereitstellung eines Toolkits an Bildungsmaterialien mit Anregungen für das Behandeln dieser Themen im schulischen und außerschulischen Bereich sein.
Projektverlauf
Am Anfang des Projektes stand eine Recherchephase mit Konzeptentwicklung und Netzwerkaufbau, der sich eine Phase mit Interviews, Gesprächskreisen und Veranstaltungen anschloss. Das Erstellen von Unterrichtsmaterialien und der Website bildete die letzte Phase des Projektes.
Die erste Phase, im März und April 2023, diente dazu, sich mithilfe von Fachliteratur, Podcasts und Filmbeiträgen einen Überblick über die Geschichte Vietnams, der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen und der Boatpeople zu verschaffen. Dieses Hintergrundwissen bildete die Grundlage für die Interviewleitfäden und half, die Lebensläufe der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen nachzuvollziehen. In einer Auftaktveranstaltung im März 2023, auf der zum ersten Mal vor einem größeren Publikum über die Ziele und Projektvorhaben berichtet wurde, konnten Mitwirkende für geplante Interviews und Gesprächskreise gewonnen werden.
Von Mai bis Juli 2023 wurden insgesamt zehn Interviews mit Vertreter*innen der ersten und zweiten Generation der Vietdeutschen geführt. In den Interviews wurden Themen wie Erziehung, Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Werte und Normen, Identität, Heimat, Kultur sowie (Alltags-)Rassismus aufgegriffen. Zu Wort kamen Menschen aus ganz MV, beispielsweise aus Schwerin, Anklam, Greifswald und Rostock. Sechs Interviews wurden transkribiert sowie anonymisiert und stehen als illustrierte Biografie auf der Website zur Verfügung. Ende Juni fanden zwei Gesprächskreise mit der ersten Generation vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen in Anklam und Rostock statt. In diesem wurden unter anderem ihre Erfahrungen in der DDR sowie der Nachwendezeit und das Verhältnis zu ihren Kindern thematisiert. Die Ergebnisse wurden eingesprochen und als Audiobeitrag verarbeitet. Anfang September 2023 folgten zwei Radioworkshops– einer von ihnen mit der ersten Generation, also den ehemaligen Vertragsarbeiter*innen, und einer mit der zweiten Generation, also ihren Kindern. Themen aus dem Interviewleitfaden wurden aufgegriffen und in der Gruppe besprochen. Ergänzt wurden die Aussagen durch einen Vortrag von Vanessa Vu, Journalistin und Podcasterin. Die Aufnahmen aus dem Radioworkshop wurden ebenfalls zu Audiobeiträgen verarbeitet.
Damit die Biografien, Audiomaterialien und der Film in der schulischen und außerschulischen Bildung eingesetzt werden können, wurden in einer nächsten Projektphase Handreichungen, Aufgabenblätter und weitere didaktische Materialien erstellt.
Im Oktober 2023 fand der Fachtag zum Modellprojekt statt. Vertreter*innen aus Wissenschaft, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Politik sowie aus der vietdeutschen Community Mecklenburg-Vorpommerns bekamen die Gelegenheit, sich anhand eines Fachvortrages und durch Workshops mit der Geschichte und Gegenwart der vietdeutschen Community auseinanderzusetzen, Zusammenhänge zu aktuellen Herausforderungen im Kontext Migration herzustellen und – nicht zuletzt – sich zu vernetzen.
Über den gesamten Projektzeitraum hinweg bildete der Kurzfilm „Aus der Ferne“ einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit. Die konzeptionelle Vorarbeit ausgehend von den ersten geführten Interviews und Gesprächskreisen führte zum Entschluss, den Fokus auf die Beziehung zwischen den beiden Generationen zu richten. Dank der monatelangen vertrauensvollen Zusammenarbeit des Filmteams mit den beiden Protagonist*innen gewährt der Film einen persönlichen und sensiblen Einblick in das Verhältnis zwischen Vater und Tochter.
Der Schwerpunkt der letzten Projektphase lag auf dem Finalisieren der Audiobeiträge, des Kurzfilms und dem Erstellen der Bildungsmaterialien sowie der Website. Das Ziel war es, einen möglichst großen Teil der Ausgangsmaterialien einzubinden und Lehrkräften sowie Dozent*innen Tools zur Gestaltung von interaktivem Unterricht an die Hand zu geben.
Eine Abschlussveranstaltung im März 2024 diente der Netzwerkstärkung. Viele Beteiligte waren vor Ort und sahen, in welcher Weise ihre Beiträge Eingang in die Bildungsmaterialien fanden. Die Veranstaltung machte deutlich, insbesondere der intergenerative Austausch ist sehr wertvoll. So kamen einige Fragen der ersten an die zweite Generation zur Sprache, über die bisher kaum geredet wurde. Darunter war bspw. das Thema Scham aufgrund der Arbeit der Eltern in Imbissen, Schneidereien oder Nagelstudios oder aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse. Das Fazit der Anwesenden war eindeutig: Sie äußerten Begeisterung über das, was aus ihren Berichten geworden ist, und großes Interesse, auch in Zukunft bei ähnlichen Vorhaben mitzuwirken.
Ergebnisse
DMithilfe des Projektes konnten die bei der Recherche zusammengetragenen Hintergrundinformationen durch Lebensberichte ergänzt und illustriert werden. Es ist gelungen, anschauliches Material zu entwickeln, in dem nicht die geschichtlichen Ereignisse, sondern die Lebenswelten und -erfahrungen Vietdeutscher der ersten und zweiten Generation im Vordergrund stehen. Themen wie Rassismus, Ausgrenzung, Kultur, Heimat und Identität werden dadurch erlebbar und sind weniger abstrakt. Das Besondere ist, die Perspektiven der ersten und zweiten Generation werden nicht unabhängig voneinander erzählt, sondern ein intergenerativer Austausch fand statt. Beide Generationen setzten sich mit ihren unterschiedlichen Perspektiven auf ausgewählte Themen auseinander. Dies stellt einen wichtigen Fortschritt im Diskurs innerhalb der Community dar, denn ein solcher Austausch fand in den Familien bisher kaum statt.
Im Ergebnis entstand eine Innenansicht der vietdeutschen Community Mecklenburg-Vorpommerns. In dieser Ansicht sind die Erfahrungen dieser Community mit Migration und Postmigration von den 1980er Jahren bis 2023 festgehalten. Dies ermöglicht der breiten Öffentlichkeit einen Einblick in diesen bisher kaum sichtbaren Teil der deutschen Gesellschaft.
Entstanden sind ein Kurzfilm, Audiobeiträge sowie Kurzbiografien, die geschichtliche und gesellschaftliche Fakten und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft begreifen lassen. Ergänzt wird das umfassende Material durch eine Ausstellung. Das auf diesen Materialien aufbauende Unterrichtsmaterial für den schulischen und außerschulischen Bereich gibt Lehrkräften und Dozent*innen Anregungen für das Aufgreifen des Themas Migration mit allen seinen Facetten im Unterricht, bei Projekttagen und Workshops.
Folgende Lernziele können mit Hilfe der beiden Bereiche Multimedia und Unterrichtsmaterialien verfolgt werden:
- Verständnis für die Zusammenhänge zwischen geschichtlich-politischen Ereignissen und individuellen Schicksalen
- Verständnis für die Relevanz migrationsspezifischer Themen in der Politik
- Förderung von Toleranz in einer vielfältigen, durch Migration geprägten Gesellschaft
- Entwicklung von Vorurteilsbewusstsein und Abbau von Vorurteilen sowie von Rassismus und Diskriminierung
- Grundwissen zu Fragen von Identität und Teilhabe in einer vielfältigen Gesellschaft
- Entwicklung und Üben von Urteils- und Kritikfähigkeit
- Förderung einer aktiven Bürgerschaft und politischen Beteiligung
Ausblick
Das Projekt stellte einen wichtigen Schritt in der Geschichte unseres Vereins dar. Wir konnten an viele vorherige Aktivitäten anknüpfen und auch einige Türen für zukünftige Vorhaben öffnen. Ein zentraler Punkt dabei ist ein Bewusstsein der Beteiligten, wie wichtig ihre Erfahrungen und Berichte sind, um Verständnis in einer vielfältigen Gesellschaft aufzubauen und zu vertiefen, um aus der Vergangenheit zu lernen und auch um mit Missverständnissen aufzuräumen. Ein Weiterführen des Dialogs ist damit nicht nur machbar, sondern auch notwendig, denn viele Fragen wurden bisher nur gestreift und verlangen eine intensivere Hinwendung.
Besonders die zweite Generation wünscht sich eine weitergehende Auseinandersetzung – einerseits mit der Geschichte ihrer Eltern und ihrer kulturellen Prägung, anderseits aber auch mit ihren eigenen Erlebnissen und ihrer Identität. So werden wir uns auch weiterhin dem intergenerativen Austausch widmen.
Bisher stehen in der Ausstellung „Vietdeutsche Lebenswege“ die Erlebnisse der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen im Mittelpunkt. Dank der Ergebnisse unseres Projektes lässt sich diese jedoch um die Perspektive der zweiten Generation erweitern. Deren Identität und Aufwachsen zwischen zwei Kulturen sowie die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem intergenerativen Austausch können im Fokus einer Erweiterung stehen.
Zudem gilt es nun, die Bildungsmaterialien, die auf dieser Website verfügbar sind, im schulischen und außerschulischen Kontext zu erproben bzw. Feedback dazu einzuholen, die Ergänzungen oder Verbesserungen erlauben. Ihr Feedback hilft uns, unsere Ideen zu entwickeln. Melden Sie uns gern zurück, inwiefern unsere Materialien und diese Website für Sie hilfreich sind oder waren oder wo Sie noch Erweiterungspotential sehen. Sie erreichen uns unter Service/Kontakt.