Vietdeutsche Lebenswege

Ein Bildungsprojekt über vietnamesisches Leben in Deutschland – Von der Vertragsarbeit in der DDR über die Nachwendejahre bis heute

Seit Jahrzenten leben Vietnames*innen in Deutschland und sind ein Teil der Gesellschaft. Oft gelten sie als strebsam, fleißig sowie gut integriert und somit als Vorzeigebeispiel für „gute Migrant*innen“. Dieses stereotype Bild lässt jedoch häufig viele ihrer Erfahrungen, geprägt von immensen Herausforderungen, wie Arbeitslosigkeit, der Angst vor Abschiebung und rassistischen Übergriffen, aber auch von Durchhaltewillen sowie Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und die eigene Familie, unbeachtet.

Das Bildungsprojekt „Vietdeutsche Lebenswege“ dokumentiert die Geschichte und Geschichten der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen und der nachfolgenden Generation. Entstanden sind u.a. ein Kurzfilm, Audiobeiträge sowie Biografien, die diese Geschichten nachvollziehen lassen. Ergänzt wird das umfassende Material durch eine Ausstellung. Das auf diese Materialien aufbauende Unterrichtsmaterial gibt Lehrkräften und Dozent*innen Anregungen für das Aufgreifen des Themas Migration mit vielen seiner Facetten im schulischen und außerschulischen Bereich.

Im Ergebnis der Projektaktivitäten entstand eine Innenansicht der vietdeutschen Community Mecklenburg-Vorpommerns. In dieser Ansicht sind die Erfahrungen dieser Community mit Migration und Postmigration von den 1980er Jahren bis 2023 festgehalten. Dies ermöglicht der breiten Öffentlichkeit einen Einblick in diesen bisher wenig sichtbaren Teil der vielfältigen Gesellschaft Deutschlands.

Geschichtlicher Überblick

Wichtige Daten und Fakten zur geschichtlichen Einordnung

7. August 1964
1973
30. April 1975
11. April 1980
9. November 1989
17. – 23. September 1991
22. – 26. August 1992
17. Juni 1993
1. November 1997
Bis Heute

7. August 1964

Tonkin-Resolution

Die USA greifen nach dem „Tonkin-Zwischenfall“ in den Vietnamkrieg ein und fliegen Luftangriffe auf Nordvietnam. Der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südvietnam wird somit zu einem Stellvertreterkrieg im Kontext des Kalten Krieges. Washingtons Ziel ist die Ausbreitung von Kommunismus in Südostasien einzudämmen, indem ein Sieg des kommunistischen Nordens verhindert wird. [1] Menschen in den bombardierten Regionen fliehen entweder mit ihren Familien oder schicken ihre Kinder und ihre Ältesten in sichere Gegenden. [2] Viele der späteren Vertragsarbeiter*innen werden in diese Zeit hineingeboren und erleben die Kriegsgeschehnisse mit. In Vietnam wird der Konflikt „Amerikanischer Krieg“ genannt.

1973

Abzug der letzten US-Truppen aus Vietnam

Nach Jahren des Kriegseinsatzes und eines phasenweisen Abzugs, zieht die US-Regierung ihre Truppen auf Druck der kriegsmüden amerikanischen Bevölkerung endgültig ab und überträgt die Kriegsverantwortung auf ihre südvietnamesischen Verbündeten. Die Luftschläge auf den Norden hören damit auf. Kriegshandlungen gehen weiter. Um die Pattsituation aufzulösen, führt Nordvietnam eine Großoffensive gegen den Süden. [3]

30. April 1975

Ende des Vietnamkrieges

Nordvietnamesische Truppen erobern die Südvietnamesische Hauptstadt Saigon und einen das Land nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges unter kommunistischer Flagge. Die sozialistische Republik Vietnam wird ausgerufen. Der Krieg kostete je nach Schätzung 2 bis 3 Millionen Vietnames*innen das Leben.

Hunderttausende Menschen fliehen in der Folgezeit aus Angst vor der neuen Regierung oder aus wirtschaftlichen Gründen über das Südchinesische Meer aus dem verwüsteten Land. Viele dieser sogenannten Boat People sterben dabei. [4] Die Bundesrepublik Deutschland nimmt rund 38 000 von ihnen als Kontingentflüchtlinge auf. Sie bilden im Westen Deutschlands eine vietnamesische Community, die unabhängig von den Vertragsarbeiter*innen in der DDR existiert. [5]

11. April 1980

Vertragsarbeiter-Abkommen

Die DDR schließt ein Abkommen mit der Sozialistischen Republik Vietnam ab, um Vertragsarbeiter*innen anzuwerben, die den Arbeitskräftemangel ausgleichen sollen. Viele folgen dem Aufruf, um ihre Familien im kriegsgebeutelten Vietnam finanziell zu unterstützen. Bis zum Ende der DDR lebten und arbeiteten auf dieser Grundlage rund 60.000 Vietnames*innen der DDR. [6]

9. November 1989

Fall der Berliner Mauer

Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der DDR waren viele vietnamesische Vertragsarbeiter*innen nun ohne Bleibeperspektive. Ihr Aufenthaltsstatus wurde mit der Wiedervereinigung nicht geklärt. Viele gingen zurück in die Heimat. Je nach Schätzungen blieben 16.000 [7] bis 21.000 [8] im wiedervereinigten Deutschland. Viele machen sich selbstständig, um ihren Lebensunterhalt und Aufenthalt zu sichern.

17. – 23. September 1991

Rassistisches Pogrom von Hoyerswerda

Eine zunehmend rassistische Stimmung im Nachwendedeutschland führt zu vielen rassistischen Übergriffen. Rechtsextreme Skinheads und Neonazis greifen in Hoyerswerda ein Asylbewerberheim an, in dem auch ehemalige Vertragsarbeiter*innen und Geflüchtete aus Mosambik und Vietnam leben. Hunderte Schaulustige und Sympathisant*innen heizen die Stimmung an. Nach fast einer Woche werden die Bewohner*innen des Heims evakuiert. [9]

22. – 26. August 1992

Rassistische Pogrome von Rostock Lichtenhagen

Geflüchtete Sinti*zze und Rom*nja aus Osteuropa sind gezwungen, aufgrund fehlender Aufnahmeplätze wochenlang vor der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) auszuharren. Rechtsextreme beginnen, die Geflüchteten und das Gebäude, sowie Polizei- und Rettungskräfte anzugreifen. Hunderte Gleichgesinnte aus der Region und auch aus anderen Teilen Deutschlands reisen an, um sich an den Ausschreitungen zu beteiligen. Nachdem die Geflüchteten evakuiert werden, entlädt sich die Gewalt auf das Nachbargebäude, in dem rund 100 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen leben. Die Gewalttäter*innen werfen unter dem Beifall tausender Schaulustiger Brandsätze in das Gebäude. Die Einwohner*innen können sich über das Dach in das Nachbargebäude retten. Die Polizei schafft es erst nach vier Tagen, die Ausschreitungen zu beenden. [10]

17. Juni 1993

Geänderte Bleiberechtsregelung tritt in Kraft

Ein Erlass der letzten DDR-Regierung zum Aufenthaltsstatus von ehemaligen Vertragsarbeitnehmer*innen vom 13. Juni 1990 tritt am 17. Juni 1993 in Kraft.

Er erlaubt eine Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für höchstens zwei Jahre, die an ein regelmäßiges Einkommen gebunden ist.

Ausreisewillige erhielten eine Abfindung von 3.000 D-Mark, eine Ausgleichszahlung in Höhe von 70 Prozent der letzten drei Monatslöhne und ein Flugticket nach Vietnam. Regelungen für jene, die dauerhaft bleiben wollten, gab es jedoch noch nicht. Viele Vietnames*innen lebten so von Aufenthaltsgenehmigung zu Aufenthaltsgenehmigung. [11]

1. November 1997

Gesetz zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften

Noch verbliebene vietnamesische  Vertragsarbeiter*innen bekommen nach Jahren der Ungewissheit eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. [12]

Bis Heute

Heranwachsen der neuen Generationen

Ehemalige Vertragsarbeiter*innen gründen in den 90ern Familien und ziehen ihre Kinder in Deutschland auf. Die zweite Generation an Deutschvietnames*innen oder auch Vietdeutschen wächst hier mit den kulturellen Einflüssen aus dem vietnamesischen Elternhaus und der deutschen Umgebung auf. Viele von ihnen sind mittlerweile im Erwachsenenalter und haben selbst Familien gegründet, so dass die vietdeutsche Community bereits in die dritte Generation geht.

    1. Steininger, Rolf: Der Vietnamkrieg (www.bpb.de; vom: 27.10.2020).
    2. Van Staaveren, Jacob: Gradual Failure – The Air War over North Vietnam, Washington 2002, S. 83.
    3. Steininger, Rolf: Der Vietnamkrieg (www.bpb.de; vom: 27.10.2020).
    4. Statista Research Department: Vietnamkrieg – Statistiken und Daten (statista.com; vom: 11.01.2024).
    5. Ha, Noa K.: Vietdeutschland und die Realität der Migration im vereinten Deutschland (www.bpb.de; vom: 03.07.2020).
    6. Ha, Noa K.: Vietdeutschland und die Realität der Migration im vereinten Deutschland (www.bpb.de; vom: 03.07.2020).
    7. Mai, Marina: Vietnamesischer Vertragsarbeiter/innen in Deutschland (www.boell.de).
    8. Weiss, Karin: Zwischen Rückkehr in die Heimatländer und Existenzsicherung vor Ort – Die Situation vietnamesischer Vertragsarbeiter 1989/90 (www.bpb.de).
    9. Bpb: Vor 30 Jahren: Rechtsextreme Ausschreitungen in Hoyerswerda (www.bpb.de; vom: 19.09.2021).
    10. Prenzel, Thomas: Vor 30 Jahren: Die rassistisch motivierten Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen (www.bpb.de; vom: 17.08.2022).
    11. Hopfmann, Karin: Der Kampf um das Bleiberecht in den 1990er Jahren – oder „Das Private ist das Politische.“ (www.boell.de).
    12. Gesetz zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften; in: Bundesgesetzblatt Jahrgang 1997 Teil I Nr. 72, ausgegeben zu Bonn am 31. Oktober 1997.

Der Verein

Zwei Monate nach den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 gründeten ehemalige Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und einige Unterstützer*innen den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V. Die Vereinsarbeit verfolgte einerseits das Ziel, rassistischen Entwicklungen entgegenzutreten und für ein friedliches Miteinander einzustehen, andererseits das Aufenthaltsrecht der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen zu sichern und ihnen somit eine Perspektive in Deutschland zu ermöglichen.

Anfänglich stand die berufliche und soziale Integration der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen im Mittelpunkt der Projekt- und Vereinsarbeit. Später wurden die Angebote des Vereins für Migrant*innen aller Herkunftsländer geöffnet und das Profil des Vereins erweiterte sich. Der Verein Diên Hông e.V. setzt sich auch heute für ein besseres Zusammenleben und Chancengleichheit in einer vielfältigen Gesellschaft ein.

Zu den aktuellen Schwerpunkten zählen die Sprachmittlung, die Integrationskurse sowie die allgemeine und politische Weiterbildung. Seit 2001 ist der Verein staatlich anerkannter Bildungsträger und setzt immer wieder auch Modellprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten um. Der Verein ist heute mit seinen verschiedenen Projekten und Tätigkeitsfeldern ein wichtiger Akteur im Bereich der Teilhabe und Integration Zugewanderter, der politischen und antirassistischen Bildungsarbeit sowie der interkulturellen Öffnung im Raum Rostock sowie im Land Mecklenburg-Vorpommern.

Danksagung

Für die großartige Unterstützung während des Projektes bedanken wir uns bei allen Mitwirkenden. Besonderer Dank gilt den ehemaligen Vertragsarbeiter*innen und ihren Kindern, die in Interviews und Gesprächskreisen über Wendepunkte, Erfolge und Herausforderungen in ihrem Leben sprachen. Ohne sie wären die vielschichtigen Materialien nicht entstanden, die sehr persönliche Einblicke in die vietdeutsche Community ermöglichen.

Für die künstlerische Umsetzung der Filmidee „Aus der Ferne“ haben wir den Filmemachenden Hoang Quynh Nguyen und Benjamin Hujawa sowie allen zu danken, die an Schnitt, Farbe, Ton und Untertitelung beteiligt waren. Für die Aufnahme sowie die Bearbeitung der Audiobeiträge bedanken wir uns bei den Aktiven von Radio LOHRO. Die Illustration der Bildungsmaterialien übernahmen Pedro Stoichita und Robert Puls, der auch diese Website gestalte. Auch ihnen sprechen wir unseren Dank aus.